Leseprobe zu
"Der Märchenerzähler - Orientalische Liebesmärchen
Wie ein Kadi zum Märchenerzähler wurde
- Wie ein Richter, der nach dem
Islam Recht spricht,
ein Märchenerzähler wurde.
Einst lebte in einer
fernen Stadt ein verwitweter Kadi. Sein Witwerdasein behagte ihm gar nicht,
deshalb suchte er nach einer neuen Gattin. Wie er das von früher gewohnt war,
sollte sie einen Teil seiner Verantwortung übernehmen.
Eine Witwe, die er
schon öfters beraten hatte, wollte ihr neuerliches Familienproblem mit seiner
Hilfe lösen. Dazu mussten sie zum Ende der Stadt. Er hoffte dabei auch zu ihr
einen Zugang zu finden, dass er mit ihr seinen Witwerstand ändern könnte. Weil
beide schlecht zu Fuß waren, suchten sie den Weg auf Eseln zurückzulegen.
Sie
waren an den ersten Eseltreibern der Karawanserei bereits vorbeigegangen, da
sprach sie ein Mann mit grauen, buschigen Augenbrauen
an:
"Wohin?"
Sie nannten ihr Ziel am Rande der Stadt. Der
Eseltreiber nickte zum Zeichen, dass er sie hinbringen würde. Der Kadi fragte
nach dem Preis. Der Eseltreiber wollte drei Dinare. Der Preis war angemessen und
so stimmte der Kadi zu. Der Eseltreiber hielt die Hand auf. Die Witwe kramte
einen 20 Dinar-Schein heraus. Da weiteten sich seine Augen und er gedachte, das
Rückgeld einzubehalten. Er nahm den Schein mit den Worten "In Ordnung" und
steckte ihn weg.
Der Kadi sah nun eine Gelegenheit gekommen, ihr seine
Beschützerqualitäten zu zeigen und widersprach:
"Nein, das ist nicht in
Ordnung."
Der Eseltreiber zog ein Geldpäckchen aus seiner Tasche und
blätterte es mehrmals durch zum Zeichen, dass er nicht herausgeben könne und
fragte:
"Ein Dinar?"Sie fand einen und reichte ihm den Schein. Er gab ihr nur
fünfzehn zurück, steckte sein Geld in die Tasche und half der Witwe auf einen
Esel.Der Kadi gewahrte, dass der Eseltreiber sie nochmals betrogen hatte. Da der
Preis für beide gerecht war, nahm er den Eseltreiber am Ärmel und sagte zu
ihm:
"Für das zurückbehaltene Geld stellst du mir mein Grautier."
Der
Eseltreiber nickte, band den Esel der Witwe los und ging zwischen seiner Herde
hindurch. Darauf erschien der Eseltreiber mit einem Tier, auf dem ein Mann saß.
Der Kadi fragte den Reiter:
"Hast du schon bezahlt?"
Der nickte.
Da
stieg dem Kadi das Blut in den Kopf. Er versuchte innerlich sich hinter ein
Mäuerchen zu stellen und das Ganze nur zu beobachten. Doch die Ungerechtigkeit
zerrte ihn hinter dem Mäuerchen hervor, er packte den Eseltreiber am Arm und
fuhr ihn an:
"Bring jetzt einen Esel für mich her!"
Der feste Armdruck
widerstrebte dem freiheitsliebenden Eseltreiber. Sich befreiend, stieß er seinen
Ellenbogen in das Gesicht des Kadis. Er traf ihn ins Auge, das der Kadi dadurch
verlor.
Als der Kadi das Ausmaß seines Unglücks erkannte, tobte er und
beschuldigte die Witwe:
"Wenn du auf dein Rückgeld besser aufgepasst hättest,
dann würde ich immer noch beide Augen haben."
Sie wollte ihn nicht bemuttern,
sie wollte sich an einen starken Mann anlehnen, nicht an ein ausgewachsenes
Kind. Die Witwe wies die Anschuldigung zurück und sagte:
"Wenn du so denkst,
dann sind wir geschiedene Leute" und verließ ihn geradewegs.
Der Kadi konnte
sich nicht in sein Schicksal finden, das verlorene Auge und die Zurückweisung
der Witwe waren ihm einfach zu viel. Er beriet andere, sich selbst konnte er
nicht raten. Da suchte er Sterndeuter auf. Sie sagten ihm allerlei über ihn,
aber bei seinem brennenden Problem konnten sie ihm nicht helfen. Er besuchte
Kartenlegerinnen, auch sie halfen ihm nicht weiter. So beendete er sein
seitheriges Leben und begab sich auf eine Reise.
Mit dem Nötigsten
ausgestattet, pilgerte er von Wallfahrtsort zu Wallfahrtsort, von Land zu Land
auf der Suche nach dem Weg zu sich selbst.
In Kairo, am Grabmal des Gawhar
Bey, betete er darum, sein Schicksal verstehen zu dürfen. Plötzlich hörte er
eine Stimme:
"Im westlichen Atlasgebirge lebt ein kleiner Stamm, der einst
von Ägypten nach Westen ausgewandert war. Zu diesem Stamm gehört eine weise
Frau. Sie trägt ihre Haare zu einer Turmschnecke gebunden. Sie kann
weissagen."
Auch wenn es ein aussichtsloses Unterfangen zu sein schien, er
muss den geheimnisvollen Stamm finden. Für den Fall, dass er ihn verfehle,
wollte er auf dem Weg dorthin alle Pilgerstätten aufsuchen, auch, um sich
ausreichend vorzubereiten.
Er schiffte sich nach Marokko ein.
Seit dem
Auslaufen waren sieben Tage vergangen. Es war Nacht. Er fand keinen Schlaf. Er
ging auf das Vorderschiff. Im Mondlicht wanderte sein Blick auf das Wasser. Die
Wellen versuchten sich zu haschen. Sie glichen den falschen Katzen, die ihr
Opfer mit einem Schlag fangen, es gleich darauf entlassen, um es erneut zu
fangen. Hatte eine Welle die andere erreicht, lachte sie, dass sich die Krone
vor Freude schneeweiß färbte, bis sie gleich wieder in Dunkelheit zurückfiel und
in der Nacht entschwand, um bald darauf wieder hell aufzuleuchten. Ist das nicht
das gleiche Spiel wie das, welches er mit dem verschlagenen Eseltreiber
hatte?
Bei dem Durchtriebenen schaffte er Gerechtigkeit und dafür wurde er
vom Schicksal geknüppelt. Warum nur hatte er sein Auge verloren? Gerechtigkeit
kann doch nicht mit Ungerechtigkeit vergolten werden.
Er blickte zum Himmel.
In der nächtlich warmen Schwärze blinkte ihm mit eiskaltem Blau ein Stern
entgegen, als sei er der alte Weise, den anderen Sternen fern, über allem
stehend, unerreichbar. Da kam ihm das Sprichwort in den Sinn:
Das Kamel
sieht nur den langen Hals seiner Geschwister,
den eigenen sieht es
nicht.
Er war von der Witwe nicht um Hilfe gebeten worden. Er hatte
sich in die Angelegenheiten anderer eingemischt, anstatt sich um seine eigenen
zu kümmern. Er sollte bei sich bleiben, in sich ruhen, in sich schauen. Um nicht
bei anderen Fehler zu suchen, sondern seine eigenen, inneren Regungen
wahrzunehmen, hatte er auf dem einen Auge den Blick nach außen verloren.
Er
blickte zum Himmel, als ob er dem funkelnden Stern danken wollte.
Er hatte
den Grund seines Missgeschicks gefunden, aber der Ausweg fehlte ihm noch.
Müdigkeit überkam ihn. Er fröstelte. So ging er zu Bett.
Er hatte den größten
Teil der Schiffsreise hinter sich. Die nächsten Häfen gehörten bereits zu
Marokko mit dem westlichen Atlas und seinem geheimnisvollen Stamm.
Um ihn
aufzusuchen, schiffte er in Rabat aus.
In der Königsstadt stand ein
prächtiger Palast mit einem wunderbaren Garten. Schneidige Wachen mit blinkenden
Waffen auf gestriegelten Pferden zogen Fremde in Bann.
Ihn bewegte das wenig.
Ihn interessierte das Grab des Frommen Abu Hassan. Die vielen Storchenhorste,
die auf Ruinen, Bäumen und auf einem Minarett der weitläufigen Totenstadt gebaut
waren, zeigten von Weitem einen außergewöhnlichen Ort an. Er war voller
Hoffnung. Am Grab des Frommen betete und meditierte der Kadi. Wie bei seinen
vorherigen Meditationen bekam er auf seine lebenswichtige Frage keine
Antwort.Gemessenen Schrittes ging er zurück zu dem Tor, durch das er in die
Totenstadt gekommen war. Ein kleines Mädchen holte ihn ein. Beide gingen
nebeneinander. Still war aus zwei Fremden ein Paar geworden. Obwohl das Mädchen
arm war und des Kadis Wohlstand sah, bettelte es nicht. Plötzlich nahm es
sich einfach das, was es haben wollte, seine Hand. Er ließ sie nehmen. Durch
dieses Vertrauen, welches das fremde, kleine Mädchen ihm entgegenbrachte, nahm
er wieder freudiger am Leben teil. Er hielt dieses Händchen. Die Schritte Seite
an Seite genügten, um die Gemeinsamkeit zu bewahren. Es bedurfte keines Wortes.
Für ihn hatte sich der Himmel geöffnet. Er ließ sich von diesem Kind, das sich
ihm voll anvertraut hatte, führen. Es war jetzt das Wertvollste für ihn. Er wird
mit ihm gehen, wohin es geht, nur um das Händchen in seiner Hand zu fühlen.
Gerade als ...