Leseprobe
Stadt ohne Väter
Das Geheimnis der Zikaden vom Taj Mahal
Wie die aufgehende Sonne den Horizont
im Dunst zerfließen ließ, so löste der Abend die Menschenmenge um das Taj Mahal
auf. Die Spannung des Tages hatte sich in abendlichen Frieden verwandelt. Die
Sonne ließ den Himmel im Rot des feurigen Chili erglühen. Langsam kühlte die
Glut ab, bis sie nur noch im Orange der fast reifen Tomaten glomm. Das Glimmen
wurde schwächer, bis es nur noch gelb wie Paprikaschoten war. Allmählich
wechselte das Gelb zu Türkis, bis der Himmel schließlich die Farbe der Nacht
annahm.
Die Zikaden waren in ihren abendlichen Gesang vertieft. Von einem Ast
im Garten des Taj Mahal klang es:
"I ' i ' i ' i - i ' i ' i ' i - i ' bin
die Liebste -
i ' i ' i ' i - i ' i ' i ' i - i ' bin die Schönste."
Und
von einem anderen Zweig tönte es zurück:
"I ' i ' i ' i - i ' i ' i ' i - i '
bin der Schönste -
i ' i ' i ' i - i ' i ' i ' i - i ' bin der
Stärkste."
Eine dritte Zikade zirpte:
"I ' i ' i ' i - i ' i ' i ' i - i '
bin der Stärkste -
i ' i ' i ' i - i ' i ' i ' i - i ' bin der
Größte."
Dieses immer eitler werdende Werben der Jugend war den Alten
schließlich des Guten zuviel, sie wussten ganz genau, wer der Größte aller
Zeiten wirklich war. - Das war der Mogulkaiser Johann; und die Liebste war seine
Gattin Mumtaz von Mahal. - Bei aller Nachsicht für die Schäkerei des jungen
Blutes, so dick brauchten sie es nicht aufzutragen.
Die Zikadenmatrone, die
das meiste für die Nachkommenschaft getan hatte und daher bei allen ein hohes
Ansehen genoss, nahm sich des jungen Volkes an: "Wann habt ihr von mir je solch
eitles Locken vernommen? Liebe muss nicht laut sein, Größe braucht nicht laut zu
sein."
Die eitle und auch jüngste Zikade fragte die Matrone: "Wie hast
du dir denn, wenn nicht mit so feinem Zirpen, die Liebe
gesichert?"
Sie antwortete: "Das ist das Geheimnis der Zikaden vom Taj
Mahal."
"Ich bin auch eine Zikade vom Taj Mahal."
"Stimmt. Deshalb kann
ich dir unser Geheimnis anvertrauen.
Wir machen es so, wie es unsere
Vorfahren gemacht haben, und die haben es von Kaiser Johann und seiner Gattin
abgeschaut."
"Und wie haben Kaiser Johann und Mumtaz von Mahal sich ihre
Liebe gesichert?"
"Jeder versuchte den anderen glücklich zu machen, der
Kaiser versuchte die Kaiserin und Mumtaz von Mahal versuchte Kaiser Johann
glücklich zu machen."
"Ist das alles?"
"Ja, im wesentlichen ist das
alles."
"Und was ist das Unwesentliche?"
"Das sind
Einzelheiten."
"Welche Einzelheiten sind das?